Skulpturen der christlichen Ikonographie. Menschenbilder von Dr. Wilfried Koch
 

Adam trauert um Lilith und erträgt die Einsamkeit nicht länger. Da hat Gott Erbarmen und macht aus einer seiner Rippen ein Weib (Genesis 2,21 und 22), das er Eva nennt. Eva bedeutet Leben, und ihr Auftrag ist es, dem Manne untertan zu sein und Mutter alles Lebenden zu werden.

Lilith jedoch, am Rande der Welt, das ist der Bereich zwischen Nacht und Tag, zwischen Traum und Wirklichkeit, kehrt in den Nächten zu Adam zurück und „raubt ihm seinen Samen“.

Um Lilith ranken sich im Lauf der Jahrhunderte/Jahrtausende viele Schreckgeschichten. Vielleicht sieht Isaias im 34. Kapitel Lilith als Nachtgespenst beim Untergang von Edom. Lilith wird die langhaarige Verführerin, und sie gebiert Hunderte von bösen Dämonen. Diese Umdeutungen der ursprünglichen Lilith-Geschichte sind zu verstehen. Der Samenraub, während Adam schlafend neben Eva liegt, macht ihn zeugungsunfähig oder -unwillig. Daraus entsteht die Geschichte vom Raub der Neugeborenen.

In Bildern und Vorstellungen wie diesen drückt sich die gesellschaftliche Angst vor Lilith aus, vor der Bedrohung der Ehe, vor Kinderlosigkeit, vor Treulosigkeit. Und es drückt sich die Angst der Frauen vor der anderen Frau aus, die ihnen den Mann nimmt.

 

Die Geschichte von Lilith, Adam und Eva hat bis heute nichts von ihrer symbolstarken Aktualität verloren. In ihr dokumentiert sich die Zerrissenheit des Mannes, zerrissen zwischen der Frau, die er liebt, für die er sorgt, die ihm Kinder gebiert, für die er ein Haus baut, und der uralten Sehnsucht nach paradiesischer Liebe, nach Lilith. Diese Sehnsucht nach Lilith stellt seine Liebe zu Eva, seiner Frau, nicht in Frage. Evas Wesensmerkmal ist ihre Zugehörigkeit zu ihrem Mann. Sie kennt keine vergleichbare Sehnsucht nach paradiesischer Liebe. Sie wird immer Adam, ihren Mann, begehren und ihm ergeben sein (Genesis 3,16). Sie hat die Verantwortung für die Kinder, für die Familie, für das Leben.