Skulpturen der christlichen Ikonographie. Menschenbilder von Dr. Wilfried Koch
 

SEHER (Teirésias)

1998 × 97 cm × Gewicht 200 kg

 

   

Ein Seher ist seit der Antike die Personifikation der Zukunftsangst des Menschen. Er erkennt die Dimension unserer menschlichen Wirklichkeit und Wahrheit, die anderen verborgen ist. Er hat „ein Auge zuviel vielleicht“, sagt Hölderlin. Der Thebaner Teirésias fiel schon in jungen Jahren der Rache der Hera und der Athene anheim. Sie schlugen ihn mit Blindheit, weil er den Menschen Geheimnisse der Götter und des Weiblichen offenbart hatte. Zeus beschenkte ihn danach zwar mit der Gabe der Weissagung und einem Leben von sieben Menschenaltern. Aber um die ganze Fülle des Menschseins zu erfahren, mußte er sieben Jahre als Frau leben. Seine Blindheit wurde ihm jedoch zur Voraussetzung dafür, die Wahrheit ganz erkennen zu können. So berichtet die Mythologie.

Beim Zug der Epigonen gegen Theben starb er als Gefangener an der Quelle Tilphussa. Auch in der Unterwelt weissagte er. Denn als der einzige unter den vielen, die gleich ihm als Schatten den Hades bevölkerten, hatte er weder sein Bewußtsein noch sein Gedächtnis verloren.

Seine Tragik liegt darin, daß er kein vorhergesehenes Unheil verhindern konnte. Noch im Hades suchte ihn Odysseus auf, aber auch er schlug seine Warnungen in den Wind.


 

 

Die auf den Kopf gelegte Hand und die Krümmung seines Leibes drücken den Schrecken über das aus, was Teirésias sieht. Er muß die Gewalt des Geschauten ertragen und die Bitterkeit erdulden, daß er an den Zweifeln seiner Hörer scheitert. Würde er selber deshalb an den Menschen verzweifeln, müßte er seine Begabung und sein Amt verfluchen. Er würde sich weigern, seine Perlen vor die Säue zu werfen, wie es in der Bibel heißt (Matth. 7,6).

Ein Seher muß ein abgrundtief Leidender und Liebender sein.