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Ein Seher ist seit der
Antike die Personifikation der Zukunftsangst des Menschen. Er erkennt die
Dimension unserer menschlichen Wirklichkeit und Wahrheit, die anderen
verborgen ist. Er hat „ein Auge zuviel vielleicht“, sagt Hölderlin. Der
Thebaner Teirésias fiel schon in jungen Jahren der Rache der Hera und der
Athene anheim. Sie schlugen ihn mit Blindheit, weil er den Menschen
Geheimnisse der Götter und des Weiblichen offenbart hatte. Zeus beschenkte
ihn danach zwar mit der Gabe der Weissagung und einem Leben von sieben
Menschenaltern. Aber um die ganze Fülle des Menschseins zu erfahren, mußte
er sieben Jahre als Frau leben. Seine Blindheit wurde ihm jedoch zur
Voraussetzung dafür, die Wahrheit ganz erkennen zu können. So berichtet
die Mythologie.
Beim Zug der Epigonen gegen
Theben starb er als Gefangener an der Quelle Tilphussa. Auch in der
Unterwelt weissagte er. Denn als der einzige unter den vielen, die gleich
ihm als Schatten den Hades bevölkerten, hatte er weder sein Bewußtsein
noch sein Gedächtnis verloren.
Seine Tragik
liegt darin, daß er kein vorhergesehenes Unheil verhindern konnte. Noch im
Hades suchte ihn Odysseus auf, aber auch er schlug seine Warnungen in den
Wind.
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Die auf den Kopf
gelegte Hand und die Krümmung seines Leibes drücken den Schrecken über das
aus, was Teirésias sieht. Er muß die Gewalt des Geschauten ertragen und
die Bitterkeit erdulden, daß er an den Zweifeln seiner Hörer scheitert.
Würde er selber deshalb an den Menschen verzweifeln, müßte er seine
Begabung und sein Amt verfluchen. Er würde sich weigern, seine Perlen vor
die Säue zu werfen, wie es in der Bibel heißt (Matth. 7,6).
Ein Seher muß
ein abgrundtief Leidender und Liebender sein.
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